Elza M.

«Deutsch lehren heisst auch Deutsch lernen»

Ihr Blick geht zum Fenster der autonomen Schule hinaus und kommt zurück. Die Nachdenklichkeit weicht der Entschlossenheit. Elza M. weiss, was sie erzählen will.

Aufgezeichnet von Katrin Bärtschi
AfdN 05/2024 – Elza M.

Ich bin in Groszny, Tschetschenien, geboren. Schon als Kind habe ich Lehrerin gespielt mit meinen Cousins, den Nachbarkindern usw. Ja, das war mein Traum, irgendwann Lehrerin zu werden. Beruflich wurde ich dann aber Buchhalterin, Sachbearbeiterin Rechnungswesen. Ich machte Weiterbildungen an der Wirtschaftskaderschule in Bern und fand Arbeit in diesem Bereich.

Ich kam vor fast zehn Jahren allein in die Schweiz und wurde bald anerkannte Geflüchtete. Am Anfang war es schwierig, es gab keinen Deutschkurs. Dann fand ich die autonome Schule, wo wir kostenlos Deutsch lernen können. Dafür bin ich ihr dankbar. Später konnte ich andere Deutschkurse besuchen, aber ich bin immer zurückgekommen. Die autonome Schule Denk:mal ist sehr multikulturell. Ich habe hier Freundinnen und Freunde gewonnen.
Als der Krieg in der Ukraine begann sagte eine Ukrainerin zu mir: «Ich besuche einen Deutschkurs, aber ich verstehe nichts und sitze nur da.» Ich überlegte: «Ich kann mit russischer Erklärung Deutsch unterrichten. Ich mache das! Okay!» Ich gab ihr die Adresse vom Denk:mal und die Leute kamen. Alles war voll, es gab keinen Platz mehr zum Sitzen. Ich bin verantwortungsbewusst, hatte mich vorbereitet und erklärte alles anhand meiner Erfahrungen und meiner eigenen Schwierigkeiten beim Deutschlernen. Das ist meine Methode.
Ich konzentrierte mich. «Okay, es sind mehr als zwanzig Personen. Du musst also bereit sein!» Ich mache es gut, ich bin auf mich selber stolz und meine Schülerinnen sind auch zufrieden mit mir.
An Weihnachten hat meine Klasse mir gratuliert mit einem Blumenstrauss und mit Pralinen – das ist traditionell in Osteuropa. Blumen für die Lehrerin. Und zum Frauentag am 8. März habe ich wieder Blumen bekommen. Das Wichtigste ist, dass ich das gern mache. Wir sind wie eine Familie. Obwohl ich aus Russland bin und sie aus der Ukraine. Wir haben Frieden. Wir sind zuerst Menschen und ich sagte: «Es gibt Regeln. Wir sprechen nicht über empfindliche Themen wie Religion, Politik oder den Krieg.» So gibt es keine Probleme. Sie kommen, um Deutsch zu lernen.
Eine Frau ist über neunzig Jahre alt. Sie sorgt sehr für mich. Ich sagte zu ihr, dass ich meine Mutter vermisse und sie sei nun wie meine Mutter.

Eine Kursteilnehmerin kommt aus der Mongolei, ein junger Mann aus Russland, ein Mann, der Russisch spricht, aus Bangladesch. Die andern sind alle aus der Ukraine. Nach jeder Stunde sagen sie mir danke. Lehrerin sein ist so, wie ich es als Kind geträumt habe. Endlich habe ich dieses Ziel erreicht!
Manche Leute denken, dass ich wegen Schuldgefühlen Deutschmoderatorin bin. Aber ich will einfach andern die gleichen Möglichkeiten geben, wie ich sie erhalten habe. Ich bin nicht schuld am Krieg.

Einmal habe ich eine Frau in Russisch unterrichtet. Ich dachte: «Wow, ich kann das!» Und bewarb mich bei der Volkshochschule, aber leider ist nichts daraus geworden. Ich hätte gerne eine Stelle als Deutschlehrerin, die russische Erklärungen gibt. Gerade jetzt, wo viele Leute aus der Ukraine da sind.

Ich bin nicht perfekt. Aber auch eine Lehrerin muss manchmal etwas nachschlagen. Das ist besser, als etwas Falsches erzählen. Wer Erfahrungen gemacht hat wie ich, unterrichtet mit Herz. Deutsch lehren heisst auch Deutsch lernen. Und es diszipliniert mich, ich muss korrekt sein, muss erklären können. Eben: Auch ich lerne etwas.
Über das Denk:mal kann ich nur Positives sagen. Wunderbar, dass es so etwas gibt!
Früher hatte ich wenig Freundinnen und Freunde, ich war allein. Das Denk:mal ist die kleine Oase, wo ich viele Menschen kennenlernte. Wir gingen zusammen Kaffee trinken, lernten Deutsch, machten Konversation. Wir kamen aus Tschetschenien, China, Afghanistan, Kolumbien, Spanien, Portugal – von überall her.

Am Abend kann jeweils das nicht verkaufte Brot bei Bohnenblust geholt werden. Osteuropäische Menschen essen viel Brot – alle warten jeweils darauf.

Ich bin sechsundvierzig Jahre alt und wohne in Burgdorf. Mir gefällt alles in der Schweiz. Das Klima ist gleich wie im Kaukasus. Die Menschenrechte sind sehr wichtig für mich. Und die Pünktlichkeit.

Am Anfang war für mich seltsam, wie langsam die Leute hier leben. Dort, wo ich herkomme, sind wir so dynamisch. Ich bin Perfektionistin. As ich noch in Russland lebte, schämte ich mich, wenn ich etwas falsch machte, aber hier dramatisieren die Leute nicht. Alle dürfen Fehler machen, das ist nicht tragisch. Das gibt eine innere Ruhe.

Die Leute sind nicht neugierig. Im Zug starrt mich niemand an. Das ist die Freiheit, die ich überall spüre. Man versteht, dass es Grenzen gibt, die wir nicht überschreiten sollen. Ich will im Zug ruhig sitzen und fahren und will niemanden kennenlernen. Ich bin kein sehr aufgeschlossener Mensch. Manchmal fahre ich ohne Ziel, ich mag das und brauche es zum Überlegen. Aber wenn ich mit jemandem sprechen will, ist das auch möglich.

Die Natur in der Schweiz gefällt mir. Ich pflanze Tomaten und Gurken auf meinem Balkon. In Russland hatte ich keine Zeit zu kochen. Hier hatte ich viel Zeit, ich musste mich beschäftigen. Kochen, malen, pflanzen – ich schickte meiner Mutter Fotos und sie fragte, ob das die Wahrheit sei. – Auf Russisch sagt man: «Gott gibt nichts Schlechtes ohne etwas Gutes.» Gott gab mir viel Zeit, damit ich mich verstehen lernte. Ich bin mit mir selber Freundin geworden.
Ich hätte nie gedacht, dass ich irgendwann in der Schweiz leben würde. Schicksal …

Komisch ist auch: Ich war in Russland so sehr beschäftigt, dass ich manchmal davon träumte, irgendwo in einem ruhigen Dorf zu sein, in einem einsamen Haus. Ich würde einen Monat nur schlafen, schlafen, schlafen. Gott hat meine Träume erfüllt. Am Anfang in Burgdorf hatte ich so viel Zeit, ich schlief nur, aber ich sagte: «Gott, das ist zu viel! Ich wollte nur einen Monat! Ich will jetzt etwas arbeiten!»

Mein Traum. Dass auf der ganzen Welt Frieden wäre. Und Gleichberechtigung für alle. Es gibt keine Unterschiede zwischen einer Nationalität und einer andern, einer Religion und einer anderen, zwischen Hautfarben – wir sind alle Menschen. Und es bringt mir Freude, wenn ich jemandem helfen kann. Wenn es dank mir einem Menschen besser geht. Alles andere ist materiell und wir haben ja alles, was wir brauchen. Wenn ich in den Nachrichten sehe, dass Kinder sterben, Frauen sterben, dass Menschen sterben, macht mich das traurig und ich weine. Ich will am Morgen aufstehen und gute Nachrichten hören. Das ist mein Traum.

Etwas Positives ist, dass es überall auf der Welt Menschen gibt, die das Mitgefühl nicht verloren haben. Manche Regierungen machen schlimme Sachen, aber die normalen Menschen machen die Welt besser. Menschen, die Mut haben und keine Angst. Und die der Ungerechtigkeit entgegenstehen.

Die autonome Schule Denk:mal sucht weitere Deutschkursmoderierende. 
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