Nick Uhlmann

«Ich will mir Zeit lassen»

Er sitzt da, scheinbar etwas ratlos, was nun genau geschehen solle. Doch kaum hat das Gespräch begonnen, legt er los. Er hat etwas zu erzählen.

Katrin Bärtschi
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Nick Uhlmann

Ich bin Nick und kam am 1. Feb. 1997 zusammen mit meinem Zwillingsbrüetsch Jan auf die Welt. Die meiste Zeit meiner Kindheit verbrachte ich am Waffenweg 15. Ich wurde nicht durch Zügeln entwurzelt wie andere – darum entwickelte ich keine besondere Bindung zum Breitsch. Er war einfach meine Umgebung, ich erlebte viel dort, nicht anders als andere Menschen in ihren Quartieren. Aber es war sehr cool hier, wir hatten viele Freiheiten, viele Nachbarskinder und ich hatte einen sehr guten Freund. Der Breitfeldschuttplatz war in der Nähe, wir waren in jeder freien Minute dort. Vorem Znacht, nachem Znacht. Wir haben im FC Wyler gespielt. Zwischen den beiden Quartier-Fussballclubs gibt es eine herzliche Rivalität. Es gab auch den Schützenwegspili. Und das Wylerbad! Megacool! Du nahmst das als selbstverständlich, obwohl es das ja gar nicht ist.

Wir gingen nicht im Quartier zur Schule, sondern in die NMS (Neue Mittelschule). Unser Schulweg – am Anfang mit der Schwester – führte in die Stadt. Erinnerungen: Ds Nünitram mit Holzbänken, beim Zytglogge raus und runter an die Aare. Auch das Stadtzentrum gehörte also zu meinen Sphären.

Ab der 7. Klasse gingen wir dann in die Spitalackerschule. Für mich und Jan war alles mega neu. Aber cool. Ich erhielt einen andern Blick auf die Schule: Die öffentliche ist sicher etwas härter und weniger individualisiert als die NMS.

Wir waren Teenager, kannten einander vom Schuttclub oder vom Skaten (was bini uf d Schnure gheit!), trafen uns als zusammengewürfeltes Grüppli am Abend draussen, chillten im Höfli ume. Cool! Ich ging dann in den Gymer, die Kontakte lösten sich ein wenig auf. Es gab neue Kontexte. Eine Garage im Weis senbühl wurde zu unserem quartier unabhängigen Treffpunkt.

Der Chilefäldgymer – er war änet der Brügg. Ich hatte keinen genauen Plan gehabt, dieser Gymer hatte mir einfach besser gefallen als der im Neufeld, wohin die meisten gingen. Auch Jan kam nicht mit. Ich war ein bisschen allein. Weil ich eher spätentwickelt war, waren einige Situationen für mich zusätzlich verunsichernd. Aber es lief dann super, ich lernte neue Leute kennen und ging gern in die Schule. Das Nordquartier blieb meine Wohnumgebung. Die Lorraine und der Breitsch bedeuten für viele Identität. Aber gerade das Gentrifizierungsthema verändert viel. Ich selber dachte nie, ich wolle unbedingt hier wohnen. Ich ging dorthin, wo es günstig war.

Nach dem Gymer war ich ein halbes Jahr in den USA. Eine eher instinktive Entscheidung, wie manche meiner Entscheidungen. Es wurde eine sehr interessante Entwicklungszeit. Ich belegte Kurse (fotografieren, lateinamerikanische Kunstgeschichte, Englisch, surfen). Ich wohnte auf dem Campus in Longbeach und lernte megaviele Leute kennen. Am Anfang war ich total überfordert. Raus aus dem behüteten Breitsch nach LA!

Zurück in der Schweiz machte ich Zivildienst in einer Kita und zog von zu Hause aus. Ich zügelte in die Felsenau in meine erste WG. So erschloss sich mir die Stadt nach und nach. Der Breitsch war zum Wohnen zu teuer, ich war noch dort bei den Eltern oder wenn ich abmachte. Ich fing an der Pädagogischen Hochschule das Studium «Kindergarten und Unterstufe » an. In der Kita hatte es mir ja gut gefallen, warum also nicht eine entsprechende Ausbildung machen? Ich zog dann an den Europaplatz in eine noch günstigere Studiowohnung und arbeitete als Velokurier.

Im Rahmen des Studiums war ich dann ein halbes Jahr in Belgien. Es war die Coronazeit, alles war abgesagt worden, aber ich blieb hartnäckig und kam schliesslich in der Schule in Lüttich/Liège unter. An einem Ort, an den ich sonst nie gekommen wäre, immerhin. Das Leben war sehr eingeschränkt, viel strenger als hier. Aber in der WG war es gut und in Bern wäre mir wahrscheinlich langweiliger gewesen als dort. Ich lernte die Stadt kennen ohne die üblichen Konsummöglichkeiten und konnte skaten. Andre Leute, die in jener Zeit im Erasmus waren, hatten glaub viel mehr Probleme als ich. Ich kam zurück, schloss das Studium ab, beendete den Zivildienst und übernahm dann Stellvertretungen. Sehr bewusst habe ich mich noch nicht für eine feste Stelle beworben. Weil man damit sehr viel Verantwortung übernimmt, was mir ein wenig Angst macht. Ich höre von vielen Leuten, dass der Druck enorm sei, viele Burnouts und einiges läuft nicht so gut im Schulsystem. Sehr heterogene Klassen, was eigentlich sehr cool wäre, aber es bräuchte mehr Personal. Ich übernehme gern Verantwortung, aber für ein klares Zeitintervall, nach dem ich wieder abgeben kann und mir überlegen, was gut war und was nicht. Bis ich vielleicht einmal irgendwo merke: Hier könnte und möchte ich landen. Mein zweites Motiv: Dank der befristeten Anstellungen – es besteht eine gros se Nachfrage nach Lehrkräften – kann ich als junge Person auch für mich Dinge tun. Ich habe das Gefühle, viele verheddern sich in der Burnout- Thematik, weil sie es gut machen, dann aber verloren gehen und sich nicht schützen können. Klassen mit zwanzig Kindern, für die du die Verantwortung hast und übernimmst – das ist schon megaviel.

Es hatte wenig Männer in meiner Ausbildung. Unterrichten bedeutet huere viel Arbeit – ein Frauenberuf eben. Der Druck ist enorm und die Neuerungen schaffen viel Verunsicherung. Früher, als es hiess: «Dem Lehrer wird nicht widersprochen!», war das Unterrichten sicher einfacher als heute, wo wir jedem Kind gerecht werden möchten. Kleinere Klassen würden viel helfen!

Ich bin froh, dass ich diese Ausbildung gemacht habe. Weil es meinen Idealen entspricht, mit Kindern zu tun zu haben, etwas zu machen für die Gesellschaft. Ich würde nicht für die Gewinnmaximierung in irgendeiner Firma arbeiten wollen. Aber ich kann mir vorstellen, mal – vielleicht auf Zeit – vom Beruf wegzugehen. Fast niemand in meinem Umfeld möchte die nächsten fünfzig Jahre unterrichten. Die Zeit ist heute kurzlebiger.

Ich habe Ansprüche an mich. Vielleicht macht mir auch ein wenig Angst, dass ich diese nicht erfüllen könnte. Viele junge Lehrpersonen stürzen sich mega hinein. Mit fünfundzwanzig. Ich finde das bewundernswert. Dass der Job häufig als Herzensangelegenheit gelesen wird, kann aber auch gefährlich sein. Es braucht Abgrenzungsmechanismen, denn die Erwartungen sind hoch und du kannst nicht einfach nach Hause gehen und Firabe. Mit den Stellvertretungen kann ich mich schrittweise herantasten. Man ist jung und sollte ja viel über sich lernen und herausfinden, bevor man eine klare – eine selbständige – Authentizität aufbauen kann.

Einmal machte ich zusammen mit Jan eine zweimonatige Velotour an der Westküste der USA, die sehr cool war. Würde ich allen empfehlen! Und dann zog ich ins Marzili, auch in eine WG. Ich wohne gern in lebendigen Quartieren. Aber es ist schon so, dass überall viel Geld investiert wird und alles teurer wird. Das ist schon traurig. Ich fände es cool, wenn es überall Angebote gäbe, die auch den finanziell nicht abgesicherten Leuten eine Perspektive bieten würden. Vielleicht binde ich mich auch deshalb nicht an einen bestimmten Ort: Wenn du zwanzig Jahre irgendwo gelebt hast, ist es sicher sehr einschneidend, wenn du wegmusst. Wobei es sich für mich nicht als unbewältigbar anfühlt. Es kommt auch darauf an, wie man was gewichtet. Mich wohlfühlen, meinen Raum haben und nicht zu viel Geld fürs Wohnen ausgeben – mehr Ansprüche habe ich momentan nicht.

Ich definiere mich nicht huere übers Arbeiten, das ist wichtig. Ich will mir erlauben, mir auch viele andere Eindrücke zu holen. Ich will mir Zeit lassen und herausspüren, was mein Ding ist. Ein Traum? Mein zentraler Traum wäre eine harmonische, friedvolle Welt. Und gleichzeitig merke ich immer mehr, dass das sehr idealistisch ist. Dass ich an einem realitätsfernen Ort in der Schweiz aufgewachsen bin und deshalb denke, der Traum sei lebbar.

Es ist huere ernüchternd, dass, obwohl viele diesen Wunsch teilen, es gewisse Leute gibt, die ihre eigenen Ideen, Vorstellungen und Dynamiken so ausleben, dass sich grosse Konflikte ergeben. Wenn ich in einer solchen Situation wäre … Wobei: Wenn es in Gewalt ausartet, kann ich mich niemals solidarisieren.

Wir reden im Bekanntenkreis schon recht viel über Politik. Gerade die Einschränkungen während Corona gaben ein Gefühl dafür, wie es sich anfühlt, wenn man immer so leben müsste, egal, ob wegen Krieg oder Umweltkatastrophen. Vorher hat meine Generation wohl sehr wenig Belastendes am eigenen Leib erleben müssen. Obwohl natürlich auch hier Sachen passiert sind, die nicht passieren dürften.

Oder die neuen Medien. Alles ist sichtbar, aber auch sehr kurzlebig. Man stumpft ab. In meinem Umfeld ist das schon ein grosses Thema. Was machen? Ich möchte Verantwortung übernehmen, weiss aber auch nicht wo und wie. Als junge Menschen sollten wir uns erlauben, Prozesse zu durchlaufen und nicht gleich alles stemmen zu müssen. Die junge Generation ist – gerade wegen der Digitalisierung – sehr im Umbruch, wie ja die ganze Welt. Es gibt recht viele handelnde junge Leute, vielleicht mehr als auch schon. Starke Überzeugungen, Verzicht. Das bekannteste Beispiel ist die Klimajugend. Sehr bewusst entscheidet sie: «Weil es sonst niemand macht, machen wir es!» Ein Hinweis auch auf das Versagen breiter Kreise! Diese Jungen richten ihr Leben auf ihr Engagement aus, sie hätten sicher auch Lust, sich mit weniger schweren Themen zu befassen. Ein Bewusstsein zu haben ist der erste Schritt, und dann viele kleine Dinge tun, das trägt etwas zum Ganzen bei. Richtig radikal zu verzichten fällt mir, wie vielen Leuten, schon schwer. Ich würde nicht sagen, dass ich genug mache. Aber es ist fast wie im Schulwesen: Kleine Veränderungen kannst du einleiten und mittragen, aber für die Durchsetzung braucht es auch die grossen Organisationen.

Aufgezeichnet von Katrin Bärtschi

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