Rachel Merlin

«Wenn wir eine coole Wohnung fänden …»

Der Umbau des Quartiers ist unüberhörbar. Die Worte müssen sich im Brassgärtli gegen den Presslufthammer durchsetzen, der die verhüllten Häuser am Blumenweg bearbeitet. Rachel Merlin lässt sich nicht beirren.

Aufgezeichnet von Katrin Bärtschi
Rachel Merlin
«Ein mega-gutes Leben: Rachel Merlin.» (Bild: zVg)

A propos Wohnen und Vermieter: Er will, dass wir gehen, weil wir ein Bébé erwarten. Von solchem hatte ich schon gehört, aber jetzt denke ich als Direktbetroffene: «Wow, diese Diskriminierung ist krass!» Der Vermieter kann uns nicht rauswerfen, aber er wohnt im Haus – die Stimmung und das Daheimgefühl leiden.

Ich bin im 3013 schon aufgewachsen. Ein Kind braucht Platz, wir werden vielleicht weniger arbeiten – 3013 ist einfach u-teuer geworden. Muss ich das Quartier verlassen? Wäre schlimm, weil es speziell ist und eine Heimat. Es ist schön und bietet alles. Ich kann auswählen: Lola oder Denner. Und die Beizen! Die Strassenfeste, Ecken, wo es Musik gibt oder wo sonst etwas läuft. Und die Aare – ein Privileg!

Aber die Veränderungen sind enorm. Die Leute ändern, die freien Wohnungen sind unbezahlbar. Ich meine nicht, dass hier nicht auch Leute wohnen sollen, die mehr verdienen und einen andern Lebensstil haben. Aber es ist einfach nicht cool, wenn Familien oder Leute mit kleinerem Einkommen verdrängt werden. Oder wenn Beizen wegen Lärmklagen schliessen müssen. Wenn aber umgekehrt – wie bei der Zeppelin- Bar – dauernd die Scheiben eingeschlagen werden, finde ich das auch nicht cool. Ist einfacher, als gegen die Grossen etwas zu unternehmen.

Ich bin jetzt hochschwanger – wenn wir eine coole Wohnung fänden …

Ich wurde 1988 geboren und wuchs im Spitalacker auf. Mit zwei Schwestern und den Eltern. Mein Leben verlief ein bisschen 08/15. Die Trennung der Eltern war dann, wie für viele Kinder in der gleichen Situation, das erste prägende Erlebnis. Mutter zog aus, aber sie wohnte ganz in der Nähe und versuchte, aus der Situation das Beste zu machen. Prägend heisst: Es war ein einschneidendes Erlebnis in einer grundsätzlich guten Kindheit. Ich war in der Pubertät. Einerseits hatte ich gerade deshalb Verständnis, aber andererseits wurde ich in dieser Phase auch gestört.

Heute kann ich total gut nachvollziehen, dass man sich trennt. Aber damals brach schon eine Welt zusammen, das kann man glaub nicht schönreden. Auch weil es wenig Kinder in einer vergleichbaren Situation gab. Wenn heute Eltern zusammenbleiben, denke ich «wow». Obwohl wir eine offene Familie sind, im Sozialen tätig und gewöhnt zu reden, sprechen wir jetzt fast mehr über jene Zeit als damals.

Das Schulsystem entsprach mir glaub nicht so. Ich war wohl sehr verträumt und abgelenkt vom Geschehen ringsum, weshalb ich nie super Noten hatte. Ruhig sitzen, zuhören – das kam später. (Lacht) Die Eltern sagten immer: «Sie tuet de dr Chnüppel scho no uuf.» Und er lockerte sich tatsächlich ...

In der Primarschule wurde ich eher gemobbt, als dass ich beliebt gewesen wäre. Es gab Kinder, die bandenweise gemein waren. Ich gehörte nie zu so einer Bande. Oder nur ganz kurz, dann schmiss man mich raus. Das war schlimm. Ja, Kinder sind fies. Ich ging wirklich nicht gern in die Schule. In der Oberstufe wurde es besser. Aber auch da lenkte mich das soziale Geschehen ab: Eine Schülerin wurde mit sechzehn schwanger, eine erlebte zu Hause Gewalt, ein Lehrer missbrauchte eine Schülerin sexuell – ich war viel mehr an dieser Welt interessiert als am Notenschreiben.

Ich studierte dann soziale Arbeit, wo mich das zwischenmenschliche Geschehen auch mehr interessierte als Theorien. Vorher hatte ich die Hotelhandelsschule besucht und dann ein Jahr in einem Hotel im Adelboden gearbeitet. Da kam ich auf die Welt! Das Dorfleben, das viele Gerede, viele Leute waren sehr gläubig – aber es hat mir mega gut getan! Danach ging ich ein halbes Jahr alleine reisen. Neuseeland, Australien, Fidschi, dann Kambodscha, Laos, Thailand. Das war glaub das Beste, was ich je machte (bin mal gespannt auf die Geburt ...). Zurück hier fing ich die PH an, merkte aber schnell, dass ich nicht so geeignet bin, den Kindern etwas beizubringen. Auch hier interessierte mich eher, wie es ihnen geht. Ich bestand dann das ellenlange Bewerbungsverfahren bei der Soz, fing in Luzern an, wohnte aber weiterhin an der Spitalackerstrasse in einer WG.

Die Soz-Ausbildung fand ich ziemlich cool. Luzern hat einen guten Ruf. Die Lehrerinnen und Lehrer waren super. Daneben arbeitete ich, zuerst im Service, nachher in einem Heim für junge Mädchen. Das war mega anstrengend und von der psychischen Belastung her happig, aber es gefiel mir sehr. Es tut mir glaub gut, immer wieder in andere Realitäten gezogen zu werden. Es lenkt auch ein wenig vom Eigenen ab, das ist nicht schlecht. Auch da das Familienthema: Die Gruppenleiterin konnte nach der Geburt nicht zurückkommen, weil sie hundert Prozent hätte arbeiten müssen (und das im Sozialen!) – alle kündigten.

Bald nach der Ausbildung fand ich eine Anstellung im Suchtbereich. Es gefiel mir, aber es war nicht meine Traumstelle. Bereits nach einem halben Jahr rutschte ich in eine stellvertretende Leitung. Ich war schon mit Herzblut dabei, obwohl die Arbeit anstrengend war: Polizei spielen. Wer lügt mich an? Wer muss wieder gefilzt werden? Einerseits Augenhöhe mit erwachsenen mündigen Menschen und eben gleichwohl nicht. Hier, wie im Meitliheim, zum Teil happige Biographien.

Ich wechselte dann ins Wohncoaching, bevor eine Stiftung mich anfragte, bei der ich heute noch in der Arbeitsintegration tätig bin.

Der Spardruck im Sozialwesen ist mega spürbar und die IV ist eben eine Versicherung: Möglichst wenig für möglichst kurze Zeit bezahlen.

Als mein Chef wegen eines Burnouts kündigte, rutschte ich nach einem knappen Jahr wieder in eine Leitungsposition. Eine Co-Leitung, zwei Frauen, wir haben es mega gut zusammen. Wir arbeiten beide Teilzeit und mit so flacher Hierarchie wie möglich. Ich sehe mich nicht als Chefin, die da sitzt und hinunterschaut.

Jetzt kommt ein neues Leben auf mich zu. Ich bin gespannt … Ich wusste wirklich nicht, ob ich den Schritt noch machen wollte. Bin gern unabhängig und auch mal für mich. Mein Freund hat ebenfalls gern «sein Eigenes». Es war wohl eine tickende Uhr, die sagte: Jetzt müsst ihr euch dann entscheiden! Nicht romantisch oder bilderbuchmässig, aber deshalb sind wir vielleicht entspannter. Wir verlassen uns auf unser Bauchgefühl. Was wir aber schon haben: einen Kita-Platz! Vielleicht erzählt man noch niemandem von der Schwangerschaft, muss aber schon einen Kita-Platz suchen …! Und all die medizinischen Termine – schon krass. Auch musst du das meiste selber herausfinden und organisieren. Wobei viele Bescheid wissen, es besser wissen und mitdiskutieren wollen …

Thema wird jetzt dann sein: nicht mehr arbeiten können wie bisher, nicht mehr die gleiche Freiheit haben. Wobei die gesellschaftlichen Anforderungen mir mehr Angst machen: genug Geld verdienen, aber auch eine gute Mutter sein. Alles unter einen Hut bringen. Diesen Konflikt haben Frauen immer noch stärker als Männer.

Ein Traum. Mhm. Eine schöne neue Wohnung. Nei, es mag kitschig tönen, aber ich habe ein mega gutes Leben und mein Traum ist, dass es so weitergeht. Und natürlich wünscht man sich den Weltfrieden und dass der Trump nicht gewählt wird. Aber ich selber habe im Moment eine ruhige und stabile Phase, die mir entspricht. Und natürlich hoffe ich, dass das Bébé gesund sein wird, dass ich ihm geben kann, was es braucht, und dass es ein gutes Menschlein wird. 

Aufgezeichnet von Katrin Bärtschi

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