«Ein folgenreicher Fehler ...»
Kann ein Brief ein Quartierchopf sein? Lesen Sie und entscheiden Sie selber.
Kann ein Brief ein Quartierchopf sein? Warum nicht? Ich bin so gut ein Quartierchopf, wie eine Brücke einer ist, ein Haus, ein Baum, ein Kater oder eine Hündin. So gut wie ein Bauwagen oder eine Schweinebande. So gut wie die, die einen runden auf ihren Schultern tragen.
Geschrieben wurde ich an einem nebligen Werktagmorgen. Meinen Inhalt kenne ich erst, seit die Empfängerin ihn halblaut las. Ich weiss, dass ich mit einer Marke beklebt und in einen gelben Kasten geworfen wurde, wo ich in einem Sack landete. Dann kam die Sortiermaschine. In schwindelerregendem Tempo wurde ich zusammen mit hunderten andern hindurchgejagt. Flinke Frauenhände packten uns in ein Kistchen, von wo aus es auf einen zweiten und vielleicht noch dritten Durchgang ging. Alles so rasend schnell, ich weiss nicht, wie mir geschah. Per Lastwagen ging’s dann weiter. Nach Ostermundigen, hörte ich jemanden sagen. In die grauen Kistchen gesteckt sollten wir maschinensortierten, «maschinenfähigen » – was für ein Wort! Was für eine Fähigkeit! – Briefe spätestens um sieben dort sein. Die andern – die maschinenunfähigen? – waren schon vor mehr als einer Stunde in den Stollen in Ostermundigen eingetroffen, an den Gestellen gemäss den Zustelltouren vorsortiert und vom Zustellpersonal abgetragen worden. Ich bin ein A-Post-Brief, Normalformat, die Adresse eigentlich leserlich geschrieben. Bin ganz und gar maschinenfähig, also. Warum sage ich denn «eigentlich»? Weil trotz aller Vorschriftsgemässheit ein Fehler passiert ist. Ein folgenreicher Fehler ... Ein Brief veränderte zwei Leben ...
Aus meiner Kiste heraus hörte ich eine Person zu meinem Briefträger sagen: «Du bist zu langsam, Pesche. Deine Performance lässt zu wünschen übrig. Gib Gas!» Mein Briefträger antwortete nichts. Aber nach einer Weile hörte ich ihn fluchen, während er mein Kistchen in einen Anhänger warf: «Verdammte Hetzerei! Eines Tages gehe ich kaputt! Und gleichzeitig mahnt man uns: ‹Wenn’s pressiert, passiert’s!› Wie soll das zusammengehen?! » Ich hörte ihn noch einige Male vor sich hinschimpfen. Und dann – tatsächlich – ist’s passiert, weil’s pressierte: Ich – ein eigentlich vorschriftsgemäss adressierter Brief – landete im falschen Kasten. Was in diesem Fall immerhin kein Grund für eine Reklamation war, sondern der Beginn einer Lovestory.
Achtlos wurde ich mit der übrigen Post aus dem Hausbriefkasten gefischt, in den der Briefträger mich mit einer hässigen Handbewegung geschmissen hatte. Und geriet in einen Haufen aus Zeitungen und anderem Papier. Eine meiner Ecken muss wohl aus der Beige hervorgeschaut haben – so habe ich es späteren Gesprächen entnommen. Und diese Ecke weckte eine gewisse Neugier. Frauenhände ergriffen mich und rissen mich auf. «Ein dicker Gorilla, träg auf dem Rücken in grünem Gras», kommentierte eine angenehme Stimme das Bild auf meiner Vorderseite und las halblaut, was auf der Rückseite der Karte geschrieben stand. «Liebe Eva – liebe Eva? – du meine unverwüstliche Brieffreundin. Danke für deine Zeilen von letzter Woche. Endlich ist der Frühling da, ich habe ihn sehnlich erwartet. Noch sind die Nächte kalt, aber die Frühblüher trotzen ihnen ...» Pause. Die Frau nahm mein Couvert noch einmal in die Hände und las die Adresse. «Der Brief ist ja an eine Frau im Haus gegenüber adressiert!», sagte sie weiter zu sich selber, «darauf deutet jedenfalls die Hausnummer hin. Wobei der Name mir nichts sagt: Eva P. Der Briefträger hat wohl einen Fehler gemacht.» Nun, die Frau hatte keine Hemmungen, sie las mich zu Ende. Entweder kannte sie das Schriftgeheimnis nicht oder es war ihr egal. Zu meinem Vergnügen las sie weiter laut, anscheinend hat sie die Gewohnheit, Selbstgespräche zu führen. «Du berichtest mir von der Frau, die in deiner Nachbarschaft wohnt und die dir gefällt. Du beschreibst sie sehr lebendig, ich habe ein Bild vor Augen. Auch ich sehe sie auf ihrem kleinen Balkon sitzen, neben den Osterglocken und den Hyazinthen. Sie liest. Oder sie hält ihr Gesicht zur Sonne, die Augen geschlossen, die schwarze Katze auf den Knien ...» – Wieder Pause. Stille. Dann kam Bewegung in die Frau. Sie nahm das Couvert, stieg damit und mit mir die Treppe hinunter, ging über die Strasse und im Haus gegenüber hinauf in den dritten Stock. Dort klingelte sie. Die Tür öffnete sich, eine Frau blickte zuerst überrascht und verwundert auf die Besucherin und den geöffneten Brief in ihrer Hand. Dann sagte sie: «Komm doch herein.»
Wie es kam, dass meine Geschichte nun in der Zeitung steht – das bleibt mein Geheimnis.
Ein Traum? Oh, ich habe mehrere Träume! Dass wieder mehr, dass viele Briefe geschrieben werden! Dass die Briefträgerinnen und Briefträger nicht mehr so herumhetzen müssen und deshalb übellaunig mit uns umspringen. Und dass noch viele Fehler mit so fröhlichem Ausgang gemacht werden.
Aufgezeichnet von Katrin Bärtschi