Der alte Lorrainegeist

«Ich will im Bild sein über mein Land»

Auch Geister denken manchmal laut ...

Belauscht von Katrin Bärtschi
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Altes, sanft renoviertes Haus im Lorraine-Loch. Bilder: kb

Das Jahr ist bald vorbei. Manchenorts versuchen die Menschen, mit hässlichen Maskeraden böse Geister zu vertreiben. Nutzlos. Wir Geister fürchten uns nicht. Und selbst wenn wir böse wären: Böses lässt sich nicht mit Bösem vertreiben. Die Leute projizieren ihre eigene Bosheit auf uns. Trotzdem mag ich manche ihrer absurden Traditionen. In der Altjahreswoche will ich wieder ins Haslital und im Rhythmus der schweren Treicheln Purzelbäume schlagen und Pirouetten drehn. Meinesgleichen suchen und hören, wie der uralte Sound von den Felsen widerhallt. Doch dann fliege ich rasch in die Lorraine zurück, denn hier bin ich zu Hause.

Meine Lorraine, die alte Lorraine – ich erkenne sie kaum wieder. Und der Baulärm macht mich schwindlig. Häuser werden renoviert oder abgerissen, neue in raschem Tempo hochgezogen. Dass die Brache so lang brach lag – ein Wunder! Nun stehen auch dort neue Häuser. Schöne, grosszügige Wohnungen, ich schaue manchmal heimlich zu den Fenstern hinein, ich will über mein Land im Bild sein. Auch Leute mit kleinem Budget wohnen scheints dort. Die Stadt halte die Mieten bezahlbar. Das sei wichtig und positiv, hörte ich Leute rühmen. Damit etwas vom «alten Lorraine-Geist» im Quartier weiterlebe.

Es gibt die Konservativen, die sich eigentlich – mir scheint zu recht – als Progressive verstehen. Nichts ist, wie es war, auch nicht die Bedeutung der Begriffe. Das Genossenschaftsmodell der Brass etwa stammt aus dem letzten Jahrhundert und ist doch das lebendige Beispiel eines Arbeitsorts ohne Ausbeutung und Entfremdung. Soweit das möglich ist. Selbstbestimmung – noch immer ein Zukunftstraum. Nötig wie eh und je. Auch im Denk:mal, der autonomen Schule, eingerichtet in einem Haus, dessen Besetzung seit Langem geduldet ist, werden alte Lebensund Bildungsvisionen neu erprobt.

An einer Strassenecke sprachen kürzlich zwei Frauen miteinander. Ich sass auf einer Kastanie und hörte ihnen zu. «Ein Quartier soll und muss sich verändern, das ist der Lauf der Zeit», sagte die eine. «Aber viele der älteren Häuser werden totalsaniert oder verkauft. Das bedeutet leider oft deutlich erhöhte Mieten. Nicht gut für ein Quartier, das auch Platz für Menschen mit kleinem Einkommen und für alternative Lebensformen bieten möchte.» «Ja», sagte darauf die zweite, «und die privaten Vermieter und Vermieterinnen sind sehr gierig geworden, die Mieten steigen jedes Jahr. Viele Familien ziehen deshalb weg. Günstiger Wohnraum ist kaum noch zu finden. Die Lorraine ist nicht mehr so lebendig.» Sie schwiegen eine Weile und sahen nicht besonders fröhlich aus. Dann meinte die erste: «Sehr begrüssenswert ist immerhin, dass in der Lorraine nach wie vor viele kleinere und mittlere Gewerbebetriebe anzutreffen sind. Und dass es hoffentlich bald wieder einen Quartiertreff gibt. Der wird dann sicher viel dazu beitragen, dass sich die Menschen aus dem Quartier besser kennenlernen und den offenen Ort für gemeinsame Aktivitäten nutzen.» Ich erspähte zwei Personen mit Hunden und hängte mich an ihre Fersen. Die Hunde schnupperten und schauten sich um, als bemerkten sie mich, trotteten dann aber wieder ihren Menschen hinterher. Der Aare zu. Sie erinnerten mich an das, was ich kürzlich eine junge Frau über das Quartier hatte sagen hören: «Baustellen an jeder Ecke! Und Hundescheisse! Wirklich viel von beidem!»

Fast wäre es in dem Moment zu einem Unfall gekommen. Ein mächtiges Auto kurvte um die Ecke, die Spazierenden sprangen samt ihren Hunden zur Seite und ich dachte noch einmal an die Frau mit der Hundescheisse. Sie hatte auch dazu etwas gesagt: «Mich dünkt, es fahren immer mehr sehr grosse und wohl auch sehr teure Autos durchs Quartier. Auch viele Lastenvelos, die mich weniger stören, die mir aber zeigen, dass sich mehr und mehr Volk mit Geld hier tummelt.» Ja, diese Lorrainebewohnerin hatte so einiges auf den Punkt gebracht: «Zwei, drei Art Galleries an bester Lage, welche nichts zum bunten Quartierleben beisteuern, sondern sich eher öffentlich unnahbar zeigen – so macht es zumindest den Eindruck. Sie sind bitz blöd und unterstreichen die sogenannte Aufwertung des Quartiers. Während die üblichen Festivitäten leider mehr und mehr ausbleiben. Wohl einem Generationenwechsel geschuldet oder halt der Gentrifizierung (Lärmklagen). Gleich geblieben sind die Lorraine- Originale, die alten verlebten Gestalten und die Boule-Spielenden im Pärkli.»

Die mit den Hunden waren weg, ich pausierte im Gemeinschaftsgarten unter der Brücke und alles ging mir noch einmal durch den Kopf. Auch ein anderes neulich belauschtes Gespräch. Ich hatte eine schön bepflanzte Terrasse bewundert, als eine Türe sich öffnete und ein Mann und eine Frau hinaustraten, um zu rauchen. «Früher bevölkerten Grüne die Lorraine», ereiferte sich der Mann. «Heute sind es Möchtegern- Grüne. Es geht jetzt vor allem ums Geld. Früher haben wir hier unkompliziert zusammengelebt, jetzt wirds immer komplizierter. Bünzli- Schweizer und -Schweizerinnen halten Einzug ins Quartier. Und reklamieren wegen allem. Das Lorraineloch ist noch wie eine WG, früher war das ganze Quartier so. Die Leute konnten aufeinander zählen und schauten einander zu den Kindern und den Pflanzen. Ein Arbeiterinnen- und Arbeiterquartier, und es gab ein Rotlichtmilieu. Jetzt sind Breitsch und Lorraine als Wohngegend gefragt. Das hat alles verändert. » Er holte Luft und fuhr fort: «Früher war die Lorraine dreckiger, aber die Leute waren sauberer im Kopf. Heute ist die Lorraine sauberer, aber die Leute sind dreckiger im Kopf.» Tatsächlich hatte auch ich gehört, wie ausländische Familien von Schikanen und Beschimpfungen erzählten.

Nun kam die Frau zu Wort: «Wir Nachbarinnen waren wie eine Familie, es gab Kulturaustausch. Und wir halfen einander aus.» Ein Besucher, dazugesellt, äusserte sich bedächtig: «Es ist schon ein grosses Thema, dass die ursprünglichen Lorrainebewohnerinnen und -bewohner im Quartier keine bezahlbaren Wohnungen finden, wenn ihnen wegen Renovationsabsichten gekündigt wird. Auch die Ähnlichkeit der Restaurants zeigt: Das Quartier ist homogener geworden. Es gibt keine Beiz wie den Felder mehr.» Dann redeten sie über die vielen Einbrüche der letzten Zeit: «Die haben der Kultur der offenen Tür auch geschadet.» Plötzlich fingen die drei zu schwärmen an: Das Lorrainebad! Die Pärkli und Kinderspielplätze! Die Lorraine ist eigentlich kein Quartier, sie ist ein Dorf, das ausläuft zur Aare hin! Sie rümpften zwar die Nasen über den Ghüder, der manchenorts ständig liege, aber, wichtiger: «Es wohnen wieder mehr junge Leute mit Kindern in der Gegend! Wohnstras-sen, die Asphaltzeichnungen – wunderbar!»

Geld und Geist. Das Geld dominiert die Gegenwart, da sind sich alle einig. Aber den Geist gibt es auch – ich bin der lebendige Beweis. Nicht hip und nicht trendy geistere ich doch durch die Köpfe und Herzen von vielen, die mein Quartier bewohnen und lieben. Und weiss: Ihre Liebe gilt auch mir. 

Belauscht von Katrin Bärtschi

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Vor dem «falafingo» (das Haus gibt es heute nicht mehr).
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Weinkarte im ehemaligen «Fäuder».
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