«Menschen sind als Menschen wert»
Catherine Gasser ist eine Frau mit Ausstrahlung. Ruhig und kompetent erzählt sie aus ihrem Leben – Persönliches und Berufliches. Auch solches, das nicht geriet, wie gewünscht. Ihre Wohnung ist gemütlich, das Gespräch tiefgründig.
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Kürzlich moderierte ich im Breitsch-Träff ein Gespräch mit Heidi Kronenberg und Samuel Geiser zu ihrem Buch «Küchengespräche. Wer kocht, putzt, wäscht und tröstet?»
Das war sehr spannend. Es brachte mich zurück in die 70er-Jahre, als ich mich als junge Frau fragte: Wie gestalte ich meine Zukunft? Kann ich mir das Heiraten vorstellen? Und realisierte: Nein. Nach dem damaligen Eherecht konnte der Mann bestimmen, ob die Frau arbeiten durfte. Das widerspricht meinen Vorstellungen von Liebe und Beziehung. Also: Wie meinen Alltag gestalten? In einer WG leben oder allein? Wie ein Kind haben und mich gleichwohl beruflich weiterentwickeln? Ich hatte schon mit sechzehn Kontakte zur POCH (Progressive Organisationen der Schweiz) in Solothurn. Auch in der Ofra (Organisation für die Sache der Frau) diskutierten wir solche Fragen. Ich arbeitete im «Kreuz» mit, einer der ersten selbstverwalteten Beizen in der Schweiz. Und erkannte auch in den aufgeschlossenen linken Kreisen Fallen und Abhängigkeiten, in die wir Frauen durch unsere Gebärfähigkeit geraten können.
Ich engagierte mich für die Gleichstellung, später auch im Frauenhaus Bern und beim Aufbau des Vergewaltigungsnotrufs. Aber wenige sahen die Problematik ähnlich wie ich. Das Auseinanderfallen von Denken und Leben – mit siebenundzwanzig geriet ich in eine Riesenlebenskrise. Ich spürte, dass ich mein Leben mit einem Kind teilen möchte. Eine gute, längere Beziehung gab ich aber auf, weil ich fürchtete, dort in eine so gäbige eheähnliche Situation zu rutschen – mit dem Mann am längeren Hebel. Er hatte fertig studiert, ich nicht. Auch da drohte ein Gefälle. Zudem schwand meine Hoffnung, Anwältin der ungerecht Behandelten zu werden, angesichts der Welt der Berner Fürsprecherinnen und Fürsprecher. Alles, was mich als Anwältin hätte auszeichnen können, hatte da keinen Platz. Ich entschied, eine Lizenziatsarbeit zum Mutterschutz in der Schweiz zu schreiben. Die Fächer Rechtsgeschichte, Rechtsphilosophie, Staatsrecht liebte ich. Das Recht als politisch begründet und nicht durch Gott oder den reinen Verstand.
Ich würde mich nur auf einen Mann einlassen, der akzeptierte, dass ich ein Kind wollte, aber nicht unbedingt heiraten. Ich lernte Urs kennen und verliebte mich wohl in dem Moment, als er dazu Ja sagte. Wir wollten finanziell je für uns selber schauen und gemeinsam für das Kind. Mit einem dicken Bauch bewarb ich mich bei Professor Caroni als Assistentin. Seine Bedingung: Ich müsse eine Dissertation schreiben. Ich war sehr glücklich, bei Prof. Caroni und seiner Art zu denken arbeiten zu können. Den Studierenden den Zugang zur Materie ermöglichen, sie begeistern! Dass ich früher leidenschaftlich Theater gespielt hatte, half. Du musst ganz da sein und merken, was beim Unterricht abgeht.
Ich hatte in Zürich zu studieren angefangen, aber dann war meine liebe Mutter so krank geworden, dass sie sterben würde. Ich unterbrach das Studium, um sie zu pflegen, und studierte später in Bern weiter. In keinem «Kuchen», aber ich engagierte mich in der Fachschaft. Gegen Ende des Studiums starb auch mein Vater. Er war ein sehr guter Feld-, Wald- und Wiesenanwalt gewesen, aber kein guter Geschäftsmann. Ich war ein fest geliebtes Einzelkind. Mutter war kriegsversehrt. Sie hatte den zweiten Weltkrieg in der Resistenzia in Italien erlebt, samt Gefängnis, und hatte bei der Rückkehr in die Schweiz noch sechsunddreissig Kilo gewogen. Eine tolle, aber kranke Mutter. «Nicht, was man hat, zählt, sondern, wer man ist» war ihre Devise. Als Genferin aus sehr reichen Verhältnissen hatte sie mit ihrem Vater gebrochen und war als Lehrerin nach Italien gegangen. Ihr Freund starb dort, sie begleitete Menschen Richtung Schweizer Grenze und wurde erwischt.
Geboren wurde ich 1958 in Olten, aber Mutter wünschte sich «vivre dans la nature». Es fand sich eine uralte Burehütte mitten in Schalunen. Mein Götti, ein Landschaftsgärtner, zog zu uns. Ich hatte also zwei Väter. Den alten mit Zigaretten und Schreibmaschine, den jungen mit seinem Garten – und ich mitten drin in der Baumschule. Meine Hauptbezugsperson war Mutter mit ihrem Freigeist, ihrer Kreativität, der Musik. Und zehn Katzen, drei Hunde, Chüngle, die gern abhauten. Rosen und Hochstammäpfel nebeneinander. Eine wilde Freude an der Natur!
Die Kehrseite: Wir waren die ersten fremden Fötzel im Dorf und Mutter mit dem petit accent. Ich wurde deswegen geplagt und musste einen Weg finden zwischen Anpassung und Liebe und Stolz für die eigene Familie. Das war sehr schwer, man hat sich über unsere Lebensweise lächerlich gemacht und lebte dies auch in Form von physischer Gewalt aus. Wenn ich heute sehe, wie wenig Respekt die Migrierten erhalten, wenn sie sich nicht assimilieren und konform verhalten, kommt mir meine Kindheit in den Sinn, wo ich nicht verstand, was man von mir wollte. Du bist immer in die Falle geraten. Die Schule war eine Katastrophe. Ein alter, sehr überforderter Lehrer, eher konservativ. Ich legasthenisch, also dumm, und feinmotorisch ungeschickt. Er starb dann und nach nutzlosen Jahren mit verschiedenen Lehrkräften kam zum Glück ein offener und gescheiter, er lehrte mich Lernen und ermutigte mich. Auch meine Eltern trugen mich. Sie waren sehr offen und herzlich. Als ich mit fünfzehn radikal links wurde, sagte mein Vater: «Das Wichtigste ist, dass man eine Haltung hat. Schlimm sind die, die keine haben.» Er schenkte mir ein Buch: «Die Bundesrätin ». Ich als Frau könne alles können. Mutters Flügel waren wegen der Gesundheit gebrochen.
Warum ich linksradikal wurde? Auf einer humanistischen Grundlage: Menschen sind als Menschen wert. Daraus leitet sich der Anspruch auf Gerechtigkeit ab. Und die Frage, was der Hintergrund der Ungleichheit sei. Die Diskussionen über den Vietnamkrieg jeden Abend nach den Nachrichten. Einerseits die Mutter, heulend, und auf der andern Seite Vaters Zorn über die imperialistische, kolonialistische Haltung der USA. Lesen, Diskussionen, Glück. Was heisst Freiheit? Andererseits erlebte ich mit den andern Kindern, wie einschränkend soziale, kulturelle und finanzielle Bedingungen sich auswirken können. Das Ablehnen des Fremden – da müssen wir Antworten finden, dachte ich.
Schon mit elf ging ich in Solothurn in den Gymer und konnte am Mittag nicht heim. Erster Kontakt mit der Selbstverwaltungsbeiz. Die Musik, die ich gern hörte, Pink Floyd. Später haben wir offen umegschätzelet. Migge Mischteli wurde als erste a) Frau und b) Linke in die Regierung gewählt – für sie habe ich gfanet! Also: Mein Linkssein am Anfang war Lebensgefühl. Äggtschen, Äggtschen, nicht Reflägtschen. Später die Lesegruppen und Seminare an der Uni. Der Kopf kam dazu, die Theorien, die Politisierung wurde intellektueller. Aber ich bin eine emotionale Linke. Wer nur wegen der Ideen links ist, kann diese auch wieder ablegen. Solche wie ich können das nicht.
Aufgezeichnet von Katrin Bärtschi
Das ist der erste Teil des «Quartier- Chopfs» mit Catherine Gasser. Der zweite folgt in der kommenden Ausgabe vom 26. Februar 2025.