«Ich erlebe das Alter als wahnsinnigen Freiraum»
Im ersten Teil berichtete Catherine Gasser von ihrer Kindheit auf dem Land, von ihrer politisch aktiven Jugend, vom Studium und von der Arbeit als Assistentin an der Uni Bern. Hier nun ihr weiterer Weg durchs Berufsleben und in die Pensionierung mit neuen Freiheiten.

Die ersten zwei Jahre arbeiteten Urs und ich fifty-fifty, er als Architekt und ich bei Caroni. Später fand ich eine junge Krippnerin, die im Bauernhaus eine Spielgruppe aufbaute mit regelmässig sechzehn Kindern. Schalunen war inzwischen ein anderer Ort. Als Caroni vorschlug, dass ich eine Habilitation schreibe, wählte ich das Thema «Funktion des Bodens als Grundlage für das Kapital, das dann in die industrielle Produktion investiert werden kann». Dann hatte mein Götti einen Hirnschlag und ich führte während eines halben Jahres die Baumschule. Ich sass am Morgen um fünf an der Habil, um sieben kamen die Arbeiter, dann wieder zwei Stunden Habil, dann Rechnungen und Büro, dann ins Loryspital zu meinem zweiten Vater. Eine schöne männliche Nähe – ich würde ihn nicht im Stich lassen!
Als Professor Caroni pensioniert wurde, war ich in der näheren Auswahl für die Nachfolge, aber die Habil war nicht fertig. Ich musste die Idee, als Rechtshistorikerin zu arbeiten, aufgeben. Wieder unterrichten? Ich wollte nicht als Lehrerin alt werden. Als ich angefragt wurde, ob ich beim BAG ein Projekt übernehmen wolle, entschied ich, einen Strich unter die Habil zu ziehen. Ich wurde stellvertretende Abteilungsleiterin und später Leiterin der Abteilung Gesundheitsberufe. Ich konnte mit gescheiten guten Leuten zusammen das Medizinalberufegesetz, das Psychologieberufegesetz, das Gesundheitsberufegesetz erarbeiten. Im Zentrum stand nicht die hochspezialisierte Medizin der Universitätsspitäler, sondern die medizinische Grundversorgung. Wohnortsnah, lokal vernetzt, Hausarztmedizin, Schaffung von Gruppenpraxen. Genügend und gut ausgebildetes Personal. Die Tatsache, dass diese Arbeit von unterschiedlichen Departementen finanziert wurde, war herausfordernd. Eine dauernde Spannung zwischen Bildungsinteressen und Gesundheitsinteressen. Wie schaffen wir es, mehr einheimische Ärztinnen und Ärzte auszubilden? Der Numerus Clausus war zu eng geschnürt, nur auf Wissen und intellektuelle Kompetenzen ausgerichtet und viel zu wenig auf soziale und kommunikative Kompetenz – das heisst: eher Spezialisierung als Prävention, Hausarzt- und Palliativmedizin.
Und die Digitalisierung und der Datenschutz – es ging darum, abstrakte rechtliche Normen so zu formulieren, dass sie auf konkrete medizinische Innovationen anwendbar sind. Die Gespräche mit den Fachleuten, die Überzeugungsarbeit und die Arbeit in einem demokratisch legitimierten Verwaltungsbereich – das gefiel mir. Ich lernte verschiedene Bundesräte kennen und ihre Art zu arbeiten. Frau Dreyfuss leider nur noch via ihre Papiere.
Ich bin eine total privilegierte Person. Ich konnte mich durch die Arbeit, die ich gern machte, weiterentwickeln, konnte aber auch Protagonistin von Veränderungsprozessen sein. Das hat mich glück-lich gemacht.
Nach fünfzehn Jahren weiss man, wo man angekommen ist und wo die Limiten sind. Und plötzlich bist du achtundfünfzig. Vierzehnstundentage waren Normalität und der Altersgap zu den Mitarbeitenden wurde immer grösser. Du bist nicht mehr inter pares, da sind jüngere Leute mit andern Vorstellungen und Kompetenzen – Achtung! Drohte ich zu limitieren? Wir hatten eben verschiedene Projekte abgeschlossen bzw. fürs Parlament vorbereitet. Meine Tochter war gross und selbständig. Ich dachte: «Jetzt gehe ich.» Und wurde angefragt, ob ich für die Krebsliga arbeiten wolle. Ich konnte ein Superteam zusammenstellen für die Einheit «Nachsorge». Aber ich merkte, dass ich zu wenig von der Sache verstand. Obwohl ich viel las. Ich war nicht Pflegefachfrau. Als ich gefragt wurde, ob ich die nationale Strategie gegen Krebs leiten wolle, sagte ich deshalb zu, und bearbeitete zusammen mit einem Forschenden und den andern Krebs-Organisationen die ganzen Fragen der Prävention. Wir verfassten einen sinnvollen und wichtigen Endbericht. Aber dann wollte ich jemand Jungem Platz machen, liess mich pensionieren, rutschte jedoch in eine Aufgabe bei Alzheimer Schweiz. Nach vier Jahren merkte ich, dass ich jetzt mal «Nichts» erleben wollte. Wo zieht es mich dann hin? Was interessiert mich? Was lese ich? Welche Filme gehe ich schauen? Ich merkte, dass ich eine fürchterliche Einzelgängerin bin. Manchmal mache ich etwas mit dem Breitschträff, terra libera. Und sehr gerne Freiwilligenarbeit mit Alzheimermenschen. Dazu, herausfordernd: Grossmutter sein. Ebenfalls sehr gern, aber nicht starr. Wenns mich braucht. Und wenn sie mich will, die Enkelin.
Ich erlebe das Alter noch einmal als wahnsinnigen Freiraum. Immer weniger Pflichten, ausser die mir selber gegenüber.
Das Nordquartier. Ich lebte dreissig Jahre mit meinem Partner im riesigen Bauernhaus. Wir machten unsern Weg, auch beruflich, überforderten uns aber wohl, verloren einander als Liebespaar, blieben aber zusammen gute Eltern. Nach unserer Trennung lebte ich allein im Haus mit Riesenumschwung, musste Schnee schaufeln, das Gras mähen usw. Sollte ich mit Leuten zusammenleben? Für die meine Art Chaos stimmen würde. So eine Alterswg könnte schwierig werden. Und: Das Landleben hatte gestimmt, als ich mit den Tieren leben konnte. Jetzt wurde es mir zu viel. Also in die Stadt! In die Nähe meiner Leute. Ich fand eine Wohnung im Haus, in dem meine beste Freundin wohnt. Separat wohnen, aber zueinander schauen. Auch sonst kenne ich viele Leute ringsum. Im Barbière bringen sie mir den Kaffee und das Mineral von selber, wenn ich zum Zeitunglesen hingehe. Ich werde wahrgenommen, mehr will ich gar nicht. Nähe und Distanz. Ich kenne die Verkäuferinnen in der Migros und die Beizen, ich gehe gern laufen. Der Breitsch ist nicht nur yuppie, man merkt hier und dort auch, dass er einmal ein Arbeiterquartier war. Ein guter Ort zum Altwerden, es ist mir sehr wohl hier. Im Breitschträff ein Multikultiangebot. Und Konzerte, Lesungen, im Quartier fürs Quartier. Familien, die andere Lebensformen ausprobieren, wie wir es auch versuchten. Frauen, die einen Weg suchen mit Arbeit und Kindern. Leute aus andern Kulturen. Solange es mir gut geht, bleibe ich gern da. Wenn es mir einmal nicht mehr gut geht – weiss auch nicht. Ich bin Mitglied von Exit, ich versuche, mein Leben selber zu gestalten, und dazu kann auch die Gestaltung des Wegs aus dem Leben gehören. Wenn ich keine Alternative mehr sehe.
Mit grosser Sorge beobachte ich die politische Situation auf der Welt. Und: Wie wird die Zukunft meiner Enkelin sein? Der Widerspruch zwischen der Erfahrung, dass Menschen einen schönen Alltagsumgang zustande bringen, und dann zu sehen, wie viel Gewalt und Hass andererseits gelebt wird, ist fast unerträglich.
Träume? Ich träume nachts oft vom Meer. Und ich träume von einer friedvolleren Welt, in der die Menschen einander mit Respekt begegnen und sich selbst und andere für das schätzen lernen, was sie sind.
Aufgezeichnet von Katrin Bärtschi