«Wenn ich etwas Gutes mache, kommt Gutes zurück»
Tashi Kernen ist ein scheuer, zurückhaltender Mann. Er kommt aus einem besetzten Land. Sein Lebensweg führte ihn über Nepal und Indien schliesslich in die Schweiz. Was er erzählt, stimmt nachdenklich.

Laut meinen Papieren bin ich 1990 geboren, aber vermutlich bin ich älter. Ich kam in Tingri in Tibet auf die Welt. Mein zweiter Vorname ist Thakchoe. Wir haben keinen Familiennamen, ich habe den meiner Frau angenommen. Bis ich zehn Jahre alt war, habe ich nicht gesprochen, warum, ist mir unklar. Ich habe drei Brüder und drei Schwestern. Ein Bruder ist jünger als ich, sonst bin ich der Jüngste. Tingri ist ein grosser Landkreis, es gab dort im Januar ein schlimmes Erdbeben, alles ist kaputt gegangen und viele Leute sind gestorben.
Meine Mutter und mein Vater und meine Schwestern arbeiteten als Farmer. Die Brüder arbeiteten im Sommer temporär auf demBau. Wir hatten auch Tiere. Kühe. Und Esel, früher gab es in Tibet viele Esel, heute nicht mehr, die Chinesen haben sie geschlachtet. Sie haben auch Hunde getötet, so auch meinen. Pferde hatten wir auch. Arbeitspferde für die Felder und während religiöser Fruchtbarkeits-Zeremonien auch zum Reiten. Ich hatte ein bisschen Angst vor dem Reiten, wegen des Herunterfallens. Ich war ja noch ein Kind. Mit zehn kam ich in die erste Klasse. Die meisten Lehrerinnen und Lehrer waren tibetisch, in dieser Zeit gab es nicht viele chinesische Leute dort. Ich ging sechs Jahre in die Schule. Ich bin nicht so gernein die Schule gegangen. Vielleicht, weil ichmit der Familie auf dem Feld arbeitete und dann müde war und einen langen Schulweg hatte. Meine Mutter hat Tsampa zubereitet, das ich zum Essen mit in die Schule nahm. In der Nähe unseres Wohnortes gab es ein chinesisches Militärlager. Die Soldaten haben Essensreste und Abfall an uns Tibeter verkauft. Einmal habe ich Zahnpasta gegessen, ich wusste ja nicht, was das war. Seither und bis zu ihrem Tod sagte meine Mutter: «Iss nichts, was du nicht kennst.»
Nachher ging ich drei Jahre in die Oberstufe. Diese war nicht in unserem Ort, ich musste weg von der Familie und wohnte in der Schule, war aber nicht gern dort. Es war eine mehrheitlich chinesische Schule. Ich hatte schon Chinesisch gelernt, aber ich habe trotzdem nicht so viel verstanden.
Auch mit Oberstufenabschluss gab es für uns keine gute Arbeit, mein Bruder war Arbeiter auf dem Bau.
Die Chefs sind alle chinesisch. Ich bin mit meinen Freunden aus Tingri weg und nach Lhasa gegangen. Zwei Monate habe ich mit meinen zwei Freunden in einem Restaurant gearbeitet. Meine Brüder haben uns gesucht und zurückgeholt. Ich ging wieder in die Schule, aber ichmachte sie nicht fertig, sondern flüchtete nach Nepal. Zuerst mit dem Bus, dann zusammen mit einem nepalesischen Geschäftsmann über die grüne Grenze. Mit einem Auto fuhren wir nach Kathmandu. Eine Nacht lang. Vom Sonnenuntergang bis zum Sonnenaufgang. Ich hatte viel gehört über Nepal. Auf der Strasse in Lhasa hatte ich eine Nuss gefunden mit dem Bild des Dalai Lama drin, ein Schlüsselanhänger, jemand hatte ihn verloren. Das war für mich wie ein Zeichen. Das Bild des Dalai Lamaist in Tibet verboten. 2008 gab es viele Demonstrationen für die Freiheit Tibets. Es gab Repression und ich dachte, wie viele: Ich muss gehen!
Ich blieb dann ein, zwei Monate in Nepal, bis ich ein Visum für Indien erhielt. Ich hörte, dass alle Menschen aus Tibet nach Dharamsala gingen. Ich bin mit dem Bus gefahren, ein paar Tage. Vielleicht drei. Es war ein Spezialbus, alles Tibeterinnen und Tibeter. Ich war jung und hatte keine Angst vor der Reise, ich wollte den Dalai Lama sehen. Im tibetischen Buddhismus ist er der geistige Führer. Früher war er auch unser politischer Führer. Der Dalai Lama wird erkannt, nicht gewählt. Die Lamas (Mönche) finden ihn.
Ich bin nach Dharamsala gekommen. Wir wurden in einem grossen Haus untergebracht, alles war organisiert. Die Küche, Zimmer, das Essen, der Arzt, alles. Schon die Reise von Nepal herwar organisiert gewesen. Alle neuen Geflüchteten erhalten den Segen des Dalai Lama. Das Blessing fand in seinem Tempel statt. Es war super. Heute kommen nicht mehr so viele Menschen aus Tibet nach Indien. Die Fluchtwege werden von der chinesischen Armee abgeriegelt.
Ich ging wieder in die Schule. Wir lernten Tibetisch und Englisch, fünf Jahre. Nachher gab es eine Prüfung und ein Abschlusszeugnis. Danach machte ich in Bangalore eine Kochlehre in einem Berufszentrum für tibetische Leute. Auch Haare schneiden, Massage, Hotelmanagement und IT konnten wir lernen. Ich wollte Koch werden. Im Zentrum selber konnte man nur wohnen und essen, die Ausbildung und Arbeit waren ausserhalb. In Indien gibt es viele Tibeterinnen und Tibeter, manche sind dort geboren. Manche können die Schule nicht bezahlen, sie können in diesen Zentren wohnen.
Ich habe in einem Berufszentrum gelernt, in demauch indische Leute lernten. Wir hatten Theorie und machten ein Praktikum. Die Schule suchte dann Arbeit für uns. Ich kam in ein Restaurant im Flughafen von Bangalore. Da war ich ein Jahr. Nachher ist mein Vater gestorben, ich dachte, ich muss nach Tibet und ging nach Delhi, um ein chinesisches Visumzu erhalten. Ich habe es zweimal versucht, bekam aber keines. Ich fand Arbeit in einem Restaurant in Delhi. In der Schule und im Flughafen hatte ich auch die internationale Küche kennen- und kochen gelernt. Weil ich meine indischen Papiere erneuern musste, kehrte ich nach Dharamsala zurück, und fand dort in einem tibetischen Hotel Arbeit als zweiter Küchenchef. In diesem Hotel habe ich meine jetzige Frau Christine kennengelernt. Kaum war sie zurück in der Schweiz, kam Corona und sie konnte nicht wieder nach Indien reisen. 2021 konnte ich dannin die Schweiz kommen und wir haben geheiratet. Ah, es brauchte so viele Papiere und alle Büroswaren zu in der Coronazeit. In Indien herrschte ja Ausgangssperre. Jeder Schritt, den ich machte, um meine Papiere beglaubigen zu lassen, lief schief. Ich hatte einen Termin in der Schweizer Botschaft in Delhi, aber der Flugwurde gecancelt und ich musste das Taxi nehmen, zwölf Stunden Fahrt. Es war alles kompliziert.
Hier ist alles anders. Alles ist sauber, die Leute sind gut, sie sind zufrieden. Ich lerne Deutsch und fand Arbeit. Jetzt bin ich in der Salome-Brunner-Schule in Wabern, wieder in der Küche. Die Arbeit gefällt mir sehr.
Es ist schön hier, die Berge, der Schnee, gleich wie in Tibet. Wir laufen dort auch Schlittschuh, aber ein bisschen anders. Bern ist auch gut. Ja, die ganze Schweiz ist gut. Der Breitenrain auch, er gefällt mir, speziell. Ich spiele Basketball und treffe Nachbarinnen und wir sprechen zusammen. Ich bin glücklich hier. Nun laufen meine indischen Papiere abund ich muss in der Schweiz einen Antrag auf Zweitasyl stellen, obwohl ich schon mehr als vier Jahre da bin.
Ich habe keinen Traum. Ich glaube, wenn ich etwas Gutes mache, kommt Gutes zurück. Wenn ich etwas nicht Gutes mache, kommt nichts Gutes zurück. Wir nennen das Karma.
Aufgezeichnet von Katrin Bärtschi